Hat Oskar Lafontaine recht, wenn er fordert: „Öffnet Nord Stream 2“?

Ehemaliger Linken-Chef Lafontaine fordert plötzlich: Nord Stream 2 soll starten. Geht das? Und was sagt man im Bundestag dazu? Eine Analyse.

Ein Mitarbeiter von Nord Stream 2 steht auf der Molchempfangsstation für die Ostseepipeline Nord Stream 2 in der Gas-Anlandeanlage. April 2020.
Ein Mitarbeiter von Nord Stream 2 steht auf der Molchempfangsstation für die Ostseepipeline Nord Stream 2 in der Gas-Anlandeanlage. April 2020.dpa/Jens Büttner

Fakt ist: Die Ostseepipeline Nord Stream 1 geht am 11. Juli in die Wartung und wird 10 Tage lang kein Gas nach Europa liefern.

Doch es kann sein, dass auch danach kein Gas nach Europa fließt. Deutschland käme einem Notstand näher. Welche Vorschläge gibt es, um die Krise zu entschärfen?

Lafontaine: Keine Bundesregierung hat das Recht …

Oskar Lafontaine, der im März 2022 aus der Linken austrat, sorgt in dieser Hinsicht mit einer heiklen Forderung für Aufsehen. „Öffnet Nord Stream 2“, schrieb der inzwischen 78-Jährige auf Facebook. Er könne das „Gejammere von Steinmeier, Scholz und anderen“ über die sozialen Verwerfungen im Fall der verdreifachten Gaspreise nicht mehr hören. Wenn man die Energie schon nur von Staaten wie den USA, Saudi-Arabien, Katar und Russland beziehe, dann sollte man sich für den günstigsten Lieferanten entscheiden, also für Russland, so Lafontaine. Denn man werfe schon all diesen Ländern völkerrechtswidrige Kriege vor (gemeint sind offenbar vor allem der Irak-Krieg, der Jemen-Krieg sowie der Vorwurf der Terrorismusfinanzierung durch Katar – Anm. d. Red.).

Sonst dürfe man auch mit den USA keine Geschäfte machen, wenn man nur wegen Menschenrechtsverletzungen die Verbindungen zu einem Land abbreche, argumentiert Lafontaine weiter. Sein Fazit: „Wenn man an die eigene Bevölkerung denkt, gibt es nur eine Lösung: Öffnet Nord Stream 2, um das Schlimmste zu verhindern. (...) Keine Bundesregierung hat das Recht, Millionen Deutsche ärmer zu machen und die deutsche Wirtschaft zu ruinieren.“

Nord Stream 2 starten – das wäre gegen einen Beschluss des Bundestages

Die längst fertig gebaute und nicht zertifizierte Pipeline Nord Stream 2 wurde bereits am 22. Februar von der Bundesregierung gestoppt, und zwar als eine Antwort schon allein auf die Anerkennung der Donbass-Republiken durch Kreml-Chef Wladimir Putin.

Seitdem betrachtet das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) den Start von Nord Stream 2 als ein absolutes No-Go und prüft Berichten zufolge sogar eine Enteignung eines Teils der Gaspipeline für die Bedürfnisse des Flüssiggasterminals an der Ostseeküste. Zudem stimmt es nicht, wie Lafontaine es suggeriert, dass Deutschland die Energie nur von den USA, Katar, Saudi-Arabien und Russland bezieht. Denn Norwegen ist nach Russland Deutschlands zweitgrößter Gaslieferant. Auch Kanada will künftig als Flüssiggaslieferant eine besondere Rolle für Deutschland spielen.

„Russland könnte Gas liefern, wenn es wollte“

Auch der Bundestag hatte bereits im April mit 586 gegen 100 Stimmen einen Ausstiegsfahrplan für russische Öl- und Gasimporte gefordert. „Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen, ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine keine Option“, sagt der Obmann im Bundestags-Energieausschuss von der CDU-Fraktion, Dr. Thomas Gebhart, der Berliner Zeitung. Stattdessen müsse die Bundesregierung jetzt endlich diesen vom Bundestag geforderten Ausstiegsfahrplan vorlegen.

Auch der FDP-Obmann im Ausschuss, Olaf in der Beek, erteilt dem Lafontaine-Vorschlag eine Absage. Bereits seit Monaten fließe auch durch die Jamal-Pipeline kaum oder kein Gas mehr, obwohl es keine technischen Gründe dafür gebe, sagt Beek der Berliner Zeitung. „Russland könnte also Gas liefern, wenn es wollte.“ Es wäre absolut falsch, Putin noch mit einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu „belohnen“, während er den brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine fortsetze, so der FDP-Politiker. Die Grünen-Obfrau im Ausschuss Lisa Badum sowie die SPD- und AfD-Obleute haben auf die Anfragen der Berliner Zeitung nicht reagiert.

Linke-Abgeordneter Klaus Ernst: Oskar Lafontaine hat vollkommen recht

Der Vorsitzende im Energieausschuss, der Linke-Abgeordnete Klaus Ernst, aber schon. „Die Sanktionen gegen Russland im Energiebereich haben zu extremen Preissteigerungen für Bürger und Unternehmen geführt“, konstatiert Ernst gegenüber der Berliner Zeitung. Im Ergebnis habe das Russland genutzt. Der russische Leistungsbilanzüberschuss hat sich etwa zwischen Januar und Mai gegenüber dem Vorjahr um das  Dreieinhalbfache erhöht, sagt Ernst.

Sein Fazit: Weitere EU-Sanktionen im Energiebereich wie das geplante Ölembargo würden der Ukraine nicht helfen, den Menschen in Deutschland und der Wirtschaft dagegen schaden. „Denn zurzeit steht Erdgas aus anderen Lieferländern nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung.“ Ernst wirft der Bundesregierung indirekt Heuchelei vor: „Wenn man der russischen Seite die ganze Zeit signalisiert, keine Geschäfte mehr mit ihnen machen zu wollen, aber gleichzeitig kritisiert, man würde kein Erdgas mehr bekommen, ist das mehr als fragwürdig.“

Oskar Lafontaine hat mit einem Nord-Stream-2-Vorstoß also „vollkommen recht“ – allerdings aus der Sicht seines ehemaligen Parteikollegen. „Statt den Bürgern Frieren für die Ukraine zu empfehlen, müssen Gespräche mit Russland aufgenommen werden, wie die Erdgasversorgung der Bundesrepublik sichergestellt werden kann“, empfiehlt Ernst weiter und verweist auf den aktuellen Eurobarometer. Demnach sind 58 Prozent der Europäer tendenziell nicht bereit, Preissteigerungen als Folge der Sanktionen gegen Russland zu akzeptieren.

Es ist so gut wie sicher: Gazprom würde gern Gas über Nord Stream 2 liefern

Bisher erklärt der russische Staatskonzern Gazprom die Drosselung der Gaslieferungen über Nord Stream 1 um 60 Prozent mit der Wartung einer notwendigen Gasturbine, die der deutsche Hersteller Siemens Energy in Kanada überholte und die jetzt wegen der kanadischen Sanktionen gegen Gazprom nach Russland nicht ausgeliefert werden kann. Es sind aber sicherlich auch politische Gründe, wie der ehemalige Siemens-Chef Joe Kaeser es verdeutlichte, denn nur eine Turbine könne nicht solch eine massive Drosselung verursachen.

Weder der Siemens-Konzern noch Gazprom wollen dabei auf die Frage der Berliner Zeitung eingehen, ob am Startort von Nord Stream 2 die eingesetzten Gasturbinen mit denen von Nord Stream 1 identisch seien. Denn theoretisch könnte die bei der Nord Stream 1 fehlende Turbine so ausgewechselt werden, falls politischer Wille bestünde.

Es stimmt auch, dass Gazprom nach Westeuropa bereits vor dem Krieg fast kein Gas über die Jamal-Pipeline über Polen transportierte, einen weiteren Transportweg nach Europa also nicht nutzte. Die Jamal-Pipeline liefert stattdessen auch heute noch Erdgas aus Deutschland nach Polen. Andererseits liefert Gazprom überraschenderweise über die Ukraine mit 42,15 Millionen Kubikmetern Gas (Stand am 5. Juli) genau die Gasmengen nach Europa, die von der Ukraine bestätigt werden. Zum Vergleich: Über Nord Stream 1 kriegt die EU nach der Drosselung rund 67 Millionen Kubikmeter Gas täglich.

Auch der Gazprom-Chef Alexei Miller hat vor einem halben Monat erneut signalisiert, dass die Nord Stream 2 „schon heute Gas nach Deutschland liefern“ könnte. Es ist also davon auszugehen, dass Putin solch einer „Bitte“ der Deutschen nachgehen würde, aber allerdings nur unter für ihn vorteilhaften Bedingungen, denn für ihn gilt ebenfalls das Motto: „Unsere Ware, unsere Regeln“.

Ein Start von Nord Stream 2 wäre ein politischer Erfolg Moskaus und ein ungewollter peinlicher Schritt für Deutschlands politische Elite, die nicht vor Putin „einknicken“ will. Wie sieht es aber der deutsche Wähler? Nicht zuletzt empfahl auch Joe Kaeser der Bundesregierung einen taktischen Trick: Erst handeln, also die Liefermengen erhöhen und die Lager füllen – still, behutsam, ohne viel darüber zu reden. Und erst danach zu den Russen gehen und sagen: „Sorry, es geht nicht mehr weiter.“