Tichys Einblick
Corona-Maßnahmen

Die Realität und Pfleger Ricardo Lange kapern Talkshow von Anne Will

Anne Will hat ihre Sendung klar strukturiert: Sie soll die Corona-Maßnahmen rechtfertigen und für ihre Fortführung werben. Doch mit ihrer Gästeliste hat sie einen schweren Fehler begangen - aus ihrer Sicht, für den Zuschauer war es indes ein Gewinn.

Screenprint ARD / Anne Will

Das Fazit ihrer Sendung spricht Anne Will gleich zu Beginn: Vor dem Herbst könne einem „Angst und Bange werden. Bis dahin müsste die Bundesregierung aber dringend das Infektionsschutsgesetz geändert haben, kommt aber irgendwie nicht aus dem Quark.“ Wohin die Sendung führen soll, wäre damit schon mal geklärt. Nun geht es nur noch darum, die ARD-Gemeinde und die lästige FDP zu überzeugen. Für Will sind die Liberalen die Partei „die da, sagen wir, den größten Gesprächsbedarf hat“.

Schon die Gästeliste ist darauf getrimmt, dass Will die „dringend“ benötigte Änderung des Infektionsschutzgesetzes argumentieren kann: So hat die Welt am Sonntag in den vergangenen Monate sich große publizistische Verdienste in der Aufklärung um Widersprüche und Fehler in der deutschen Corona-Politik erworben. Die Leser honorieren das. Entgegen dem Branchentrend ist die Auflage der Welt am Sonntag deutlich gestiegen. Doch Will lässt deren Stimmen außen vor.

Stattdessen ist Christina Berndt da. Die Wissenschaftsredakteurin der Süddeutschen Zeitung hat sich jüngst auf Twitter nicht entblödet, eine Krise der Welt zu attestieren, weil es bei der zu Personalwechseln kam. Die Personalwechsel im eigenen Haus thematisierte sie nicht. Nur Nachrichten veröffentlichen, die in die eigena Agenda passen, ist die erste und wichtigste Regel einer jeden Haltungsjournalistin. Berndts dramaturgische Aufgabe bei Will ist es, mehr und schnellere Maßnahmen zu fordern, wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf die Bremswirkung der FDP hinweisen muss.

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In der ersten Viertelstunde geht Wills Konzept auf. Will, Berndt und Lauterbach bearbeiten gemeinsam die parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestags-FDP, Christine Aschenberg-Dugnus: Wobei nicht der SPD-Vertreter der politische Hardliner ist, sondern die beiden „Journalistinnen“. Etwa beim Stichwort: Evaluierung der Maßnahmen, also Überprüfung auf Zweckmäßigkeit: „Hat es irgendwas gebracht, auf den Bericht zu warten?“ „Nein.“ Das Duo spielt sich die Bälle zu und bringt so das am Anfang festgelegte Ziel der Sendung nach vorne.

Es kommt zu ungleichen Behandlungen: Während Anne Will Berndt zum Jagen trägt und aussprechen lässen, fällt sie Aschenberg-Dugnus ins Wort. Den Wunsch nach Information der Bürger tut Will als „die berühmte Risikokommunikation“ ab. Und während Berndt der Evaluierungs-Kommission vorwirft, sie habe „willkürlich Studien zitiert“, lobt Will den im Studio sitzenden Erfinder der „absoluten Killervariante“ für seine Kompetenz, die er sich aus nächtlich studierten Studien gezogen habe.

Nach 16 Minuten endet das Konzept Wills abrupt. Zum ersten mal lässt die Moderatorin den Intensivpfleger Ricardo Lange zu Wort kommen. Auch er hat eine dramaturgische Rolle. Er soll erzählen, wie schlimm es während der Pandemie in Krankenhäusern zugegangen ist. Das schüchtert jeden moralisch ein, der nachfragt ob einzelne Maßnahmen oder aller Maßnahmen im Paket sinnvoll gewesen seien. Nur: Lange spielt nicht mit. Er verweigert sich der ihm zugedachten Rolle. Und das eindrucksvoll.

Die Überbelastung „in der Pflege ist nicht ein Problem von Corona, es ist ein Problem seit Jahren“. Warum es Eingriffe in die Grundrechte gegeben habe, wenn es nicht mal Daten dazu gegeben habe, will Lange wissen. Und er erwähnt etwas, das die ARD in den vergangenen zwei Monaten gut versteckt hat: den Streik der Pfleger in Nordrhein-Westfalen. Was denn Lauterbach gegen die Personalnot machen wolle, die in diesem Streik moniert wird?

Krankenhäuser würden entlastet, kündigt der Gesundheitsminister an, wenn sie „Entlastungsverträge“ unterzeichneten. Auch würde künftig geprüft, wie stark die Pfleger auf den Stationen belastet seien.

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Doch Lange ist der lebendige Realitätscheck: „Die Kliniken bescheißen.“ Daher seien Lauterbachs Vorschläge Kopfgeburten, die an der tatsächlichen Situation nichts verändern würden. Etwa weil Servicekräfte als Pfleger abgerechnet würden, um die Bilanz zu schönen. Was es da heiße, Arbeitsbedingungen zu verbessern? Es ist Aschenberg-Dugnus, die hier konkrete Vorschläge macht. Einen Springer-Pool aufbauen etwa, der unterbesetzte Krankenhäuser entlaste. Oder Pflegerinnen bevorzugt mit Kita-Plätzen versorgen.

Die Sendung ist Will entglitten. Plötzlich geht es um die Realität in Krankenhäusern. Doch darauf wollte die Moderatorin nicht raus. Also grätscht sie nach einer weiteren Viertelstunde laut dazwischen. Es ginge darum, sich auf den Herbst vorzubereiten, erinnert sie. Für Will heißt das nicht, die Situation in Krankenhäusern zu verbessern. Für sie geht es darum, die Maßnahmen zu rechtfertigen und fortzuschreiben – wie sie es gleich zu Beginn gesagt hat. Sie wendet sich an ihre Verbündete Berndt, um wieder aufs Gleis zu kommen: Es geht erneut um die Ergebnisse der Evaluierungs-Kommission.

Doch Berndt ist nicht mehr im Fahrplan. Es sei falsch, dass die Kommission fehlende Daten anmahne. Wobei die Wissenschaftsjournalistin dann schon einräumen muss, dass es an Daten mangele. Das sei so, weil es eine „deutsche Kultur“ gebe, keine Daten zu erfassen. Das wiederum wird jeden erstaunen, der schon mal mit einer deutschen Behörde zu tun hatte – oder auch nur mit einer Bank oder der Bahn. Den Spagat schließen, warum es falsch ist, fehlende Daten anzumahnen, obwohl tatsächlich Daten fehlen, kann Berndt erstmal nicht. Lange wirft sich zurück in die Diskussion.

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Ob Berndt schon mal mit einem Tumor-Patienten gesprochen habe, dessen Erkrankung wegen der Corona-Auflagen zu spät erkannt wurde? Wie man Maßnahmen verteidigen könne, ohne zu wissen, ob sie helfen und wie sie schaden? Jetzt bringt die Will-Berndt-Lauterbach-Koalition Lange schnell zum Schweigen. Und der Gesundheitsminister erklärt erstaunlich offen, warum Lange schweigen soll: „Wir dürfen die Leute nicht verunsichern … Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, wir hätten die Dinge willkürlich gemacht“. Es ist eine Regieanweisung, von der Lauterbach vergisst, dass er sie nicht im Rotwein-Keller ausgesprochen hat – sondern in einer Live-Sendung.

Als um die Iden des Märzes die allgemeine Impfplicht im Bundestag gescheitert ist, mussten die Maßnahmen-Befürworter in Politik und Journalismus eine Lektion in Medienkunde lernen: Nur mit medialem Trommelfeuer lässt sich der Druck aufrechterhalten, der Deutschland hinter China zum Hardliner in Sachen Pandemie hat werden lassen. Wenn wie im März der Fokus auf einem anderen Thema ist – in dem Fall der Krieg in der Ukraine – dann stellen viele den Zweck der Maßnahmen in Frage. Sogar im Bundestag.

Deswegen haut Lauterbach wieder täglich mehrere Meldungen raus, in denen er mahnt, warnt und fordert. Deswegen geht er in Talkshows, die so designt sind, dass sie seinen Absichten entsprechen. Und die keine kritischen Gäste von der Welt einladen, sondern willige Stichtwortgeberinnen wie Berndt. Dumm nur, dass Lange in dieses Spiel eingebrochen ist. Ihn hält Will jetzt an der Seitenlinie. Die Moderatorin will nicht, dass sich die Realität in ihre Sendung einmischt. Selbst wenn die Realität spannend für den Zuschauer wäre. Sie will eine choregraphierte politische Show abziehen, deren Fazit sie gleich am Anfang festgelegt hat.

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Ein einziges mal lässt sie Lange noch zu Wort kommen. Als es um die kostenlosen Tests geht. Doch den Gefallen, wenigstens die zu fordern, tut der renitente Pfleger der Moderatorin nicht. Stattdessen will er darüber reden, warum sein Berufsstand einer Impfpflicht unterliegt, statt dass die älteren Gepflegten geimpft würden. Wills Stirn zieht Falten. Dahinter lässt sich das Gespräch erahnen, das sie an diesem Montag führen wird. Mit dem Redakteur, der ihr diesen Gast auf die Liste gesetzt hat.

Wenn Pfleger doch geimpft seien, müssten sie auch nicht getestet werden, folgert Lange – und zwingt Lauterbach so zu der Aussage, dass sich auch Geimpfte infizieren können. Das Thema Impfen hat Will auf den Schluss der Sendung gelegt – eine Impfpflicht fordern, quasi als Happyend, will aber jetzt niemand mehr.
Zu viel Realität. Vor allem wegen Lange. Aber einige male lässt auch Lauterbach die tatsächliche Lage des Landes ins Studio. Bei den „kostenlosen Tests“ versteht Berndt nicht, dass es für den Staat da Kostengrenzen geben darf. Doch Lauterbach erinnert an die Situation, in der das Land auch ohne Corona im Herbst sein werde.

Ohne es beim Namen zu nennen, spricht er von einem Land, in dem Teile der Produktion stillstehen werden, weil es nicht genug Gas gibt. Früher in der Sendung redet er davon, dass es keine weiteren Lockdowns geben werde. Weil sie medizinisch sinnvoll waren, aber jetzt nicht mehr seien – nicht etwa, weil das Land sich noch mehr Betriebsschließungen einfach nicht leisten kann. Auch wenn Trommler wie Will oder Berndt noch längst nicht aufgegeben haben. Mittlerweile spielen sie gegen die Realität an – und die wird zunehmend lauter.

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